«Ein Lohn zum Leben»
Am 18. Juni stimmen wir in Winterthur über die Volksinitiative «Ein Lohn zum Leben» ab. Ihr Kernanliegen: Wer erwerbstätig ist, soll nicht in Armut leben müssen. Deshalb verlangt die Initiative einen Mindestlohn von 23 Franken pro Stunde in Winterthur. Aktuell haben in Winterthur gemäss der Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik von 2018 knapp fünf Prozent der Arbeitnehmenden einen Lohn unter 23 Franken. Das sind rund 3600 Personen. Mehr als zwei Drittel davon sind Frauen.
Der Stadtrat begrüsst das sozialpolitische Ziel der Initiative. Die Einführung eines Mindestlohns ist ein Lösungsansatz, um Armut trotz Erwerbstätigkeit zu reduzieren. Deshalb hatte der Stadtrat als Kompromiss einen weniger weit gehenden Gegenvorschlag ausgearbeitet und der Initiative gegenübergestellt. Weil das Stadtparlament den Gegenvorschlag abgelehnt hat, kommt dieser nicht zur Volksabstimmung. Aufgrund dieser neuen Ausgangslage empfiehlt der Stadtrat ein Ja zur Volksinitiative.
Volksinitiativen gehen nicht von Regierung und Parlament, sondern von der Stimmbevölkerung aus. Sie waren historisch gesehen ein Instrument der Opposition. Und sie sind auch heute noch ein wichtiges demokratisches Element. Sie geben den Anstoss zu Anregungen und gesellschaftlichen Grundsatzdiskussionen, die weit über die Formulierungen der jeweiligen Initiativtexte hinausgehen.
So regt die vorliegende Initiative zu grundlegenden Fragen an: Welche Rolle hat der Staat gegenüber Wirtschaft und Gewerbe? Aber auch Fragen zum Wert von Erwerbsarbeit. Zur Wertschätzung unterschiedlicher Berufe und Erwerbstätigkeiten. Und zum Respekt gegenüber jenen Menschen, die diese Arbeiten erbringen. Ist es zulässig, dass jemand bei Vollzeit-Erwerbsarbeit nicht über die Runden kommt? Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn für gewisse Tätigkeiten Millionensaläre und hohe Boni bezahlt werden? Und sie gleichzeitig bei anderen alltäglichen Arbeiten und Dienstleistungen Löhne zulässt, die kaum zum Leben reichen? Welche Signale sendet eine Gesellschaft damit an ihre Mitglieder? Mit welchen Folgen?
Solche und andere Fragen beschäftigen mich. Im Hinblick auf die anstehende Abstimmung. Aber auch weit darüber hinaus. Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft solche Diskussionen führen. Ebenso wichtig ist es, sich über die die anstehenden Abstimmungen zu informieren und daran teilzunehmen.
Nicolas Galladé, Stadtrat und Sozialvorsteher